von Claudia Bade
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20. Februar 2021
Ein altes Ehepaar wohnt seit über 40 Jahren auf der ersten Etage eines Mietshauses. Beide sind weit über 80 Jahre alt, ein Leben lang zusammen, kinderlos. Sie kommen recht gut alleine zurecht. Er sitzt im Rollstuhl und kümmert sich um den größten Teil des Haushalts wie z. B. das Kochen. Sie schaut viel fern und telefoniert gerne, liest Klatschblätter und studiert ausgiebig die Werbung, die so häufig ins Haus flattert. Kleine Freuden. Mehr braucht es nicht. Sie haben sich arrangiert. Möchten nicht weg aus der Wohnung, in der sie seit über 30 Jahren gemeinsam leben. Die Türrahmen sind verschrammt vom Rollstuhl. Das Badezimmer und die Vorratskammer sind mit dem Rollstuhl für ihn nicht erreichbar. Nur mühsam und mit viel Anstrengung kommt er zum Stehen und sucht Halt an Wänden und Möbeln, um sich dort abzustützen. Ein kleiner Balkon, kaum Platz für zwei, ist die einzige Möglichkeit, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Ein selbst gemachter Meisenknödel sorgt mit seinen zahlreichen gefiederten Besuchern für große Freude. Immer und immer wieder. Tagein. Tagaus. Aussetzer und Frust. Immer häufiger bemerkt man eine Unzufriedenheit, Ungeduld, Frust. Liegt es daran, dass plötzlich viele Dinge noch mehr Kraft kosten als noch vor einer Woche? Veränderungen werden wahrgenommen. Manche kommen plötzlich, andere schleichend. Kochen möchte er nicht mehr. Die stundenlange Beschäftigung am Vormittag fällt weg. Damit auch der Abwasch und das Aufräumen danach. Es strengt ihn jetzt zu sehr an. Der Rollstuhl in der schmalen Küche, die hohen Schränke, nicht in den Topf oder die Pfanne schauen zu können. Ab jetzt wird das Mittagessen geliefert. Damit sind sie beide zufrieden. Ein Küsschen zum Abschied. Muss einer der beiden das Haus für einen Arzttermin verlassen, achtet der andere darauf, dass die Kleidung ordentlich ist, die Haare gekämmt sind, die Jacke die richtige für das Wetter ist. "So, bis gleich", ein Küsschen zum Abschied. Das rührt. Bei der Rückkehr weiß sie häufig nicht, dass er das Haus wegen eines Termins verlassen musste und lacht über sich selbst. Sie hat ihn gesucht und sich gesorgt. Andersherum ist es anders. Er genießt die Ruhe, wenn sie das Haus verlassen hat. Sie schimpft viel über seinen Rollstuhl und darüber, dass er gegen Möbel rollt. Sie stellt viele Fragen, die er meist geduldig beantwortet. Marmelade. Die mag sie. Aus Johannisbeersaft und Gelierzucker kocht er für sie Gelee. Den mag sie gerne auf ihrem Knäckebrot. Bald gib es auch wieder frische Erdbeeren und Rhabarber. Davon kocht er Kompott. Den mag sie nämlich auch gerne. Zum Eis.